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Urban Gardening: Salat aus der Flasche und Möhren vom Dachgarten

In vielen Großstädten entdecken die Menschen den Boden wieder und machen ihn nutzbar. Ob auf Hausdächern, in Plastikflaschen oder in Hochhäusern – die urbane Landwirtschaft gilt ihren Verfechtern als ein Hoffnungsträger im Kampf gegen die „Entgrünung“ der Stadt. In Ballungsgebieten von Entwicklungsländern schafft urbane Landwirtschaft Einkommen und viele Jobs. In einigen Großstädten auf der ganzen Welt tragen Garten-Projekte inzwischen dazu bei, dass manche Areale wieder grün werden. Zwar sind manche Böden in Städten durch Schadstoffe aus Industrie- und Autoabgasen belastet und nur mit Vorsichtsmaßnahmen nutzbar, doch kann urbane Landwirtshaft zumindest teilweise dazu beitragen, dass sich die Menschen selbst mit Lebensmitteln versorgen können, die sonst unzureichend ernährt wären.

Grüne Revolution auf Kubanisch: „Bio“-Farming als letzte Chance

Kuba in den Neunziger Jahren: Die „Periodo especial“ erschüttert die kubanische Landwirtschaft. Aus der Sowjetunion kommen nach dem volkswirtschaftlichen Zusammenbruch keine Nahrungsmittel, keine Maschinen, kein Dünger, keine Pestizide mehr – die landwirtschaftliche Produktion bricht ein. Und in Havanna fehlt das Geld für die Instandhaltung kolonialer Bauten, ganze Stadtviertel stehen leer.

„Die Leute haben gehungert“, erinnert sich Susanne Scholaen, Landesdirektorin der Deutschen Welthungerhilfe in Kuba. Die deutsche Hilfsorganisation begleitet seit 1994 den grünen Wandel in Kuba. Die Bewohner Havannas haben aus dem Mangel heraus Obst und Gemüse vor ihrer eigenen Haustür angepflanzt. Die Politik unterstützte sie dabei, verpachtete viele der staatseigenen Brachflächen an Kooperativen zur Nutzung. Was Havanna seitdem erlebt ist eine grüne Umwälzung – eine Revolution, die auf das ganze Land übergeschwappt ist.

Heute produzieren mindestens 40 Prozent aller städtischen Haushalte in Kuba Lebensmittel. Insgesamt existieren rund eine Millionen Hausgärten und Stadtfarmen; zusammen bedecken sie eine Fläche von mehr als 50.000 Hektar – auf Dachgärten, in Gemeinschaftsbeeten oder auf den Arealen staatlicher Unternehmen. Kaum ein Quadratmeter bleibt ungenutzt.

In den Gärten wachsen Mangos, Ananas und Papayas, aber auch Gemüsesorten wie Möhren, Rote Beete und Kohl. Das meiste davon stammt aus ökologischem Anbau. Und auch das ist kein Zufall: In den Neunzigern blieb der Import von Kunstdüngern und Pestiziden aus, und noch heute ist die Einfuhr aufgrund der Handelsrestriktionen zu teuer. Stattdessen dienen unter anderem Chilis und Knoblauchextrakte als bewährte Pflanzenschutzmittel.

„Havannas Bio-Anbau ist aus der Not heraus entstanden, wird aber von den Kubanern immer mehr als Tugend betrachtet“, erklärt Scholaen von der Welthungerhilfe. Dass der Reformkurs der kubanischen Führung an dem eingespielten System der urbanen Landwirtschaft etwas ändern könnte, glaubt sie nicht. Im Gegenteil: Das Beispiel Havanna könne auch fernab der Insel Schule machen.

Stadtfarmen in Detroit: Eine Autostadt sieht Grün

Detroit war einst das Herz der US-Autoindustrie. Doch die seit Jahrzehnten unter der schwächelnden Industrie, politischen Versäumnissen und massenhafter Abwanderung leidende Stadt verarmte zunehmend. Die Finanzkrise 2007 traf Detroit wie kaum eine andere Stadt in den USA. Bis heute sind ganze Straßenzüge entvölkert, von einst knapp einer Millionen Einwohnern im Jahr 2000 sind weniger als 700.000 geblieben, geschätzte 40.000 Häuser und Wohnungen stehen vor dem Abriss, Zehntausende mehr stehen leer.

Doch die Detroiter rappeln sich auf, machen aus der Not eine Tugend. Sie beginnen die freigewordenen Brachflächen in grüne Stadtfarmen zu verwandeln und schaffen sich so eine Einnahmequelle. Für viele der Bewohner war es die einzige Möglichkeit, der Arbeitslosigkeit zu entkommen. Auch zahlreiche ältere Menschen haben sich trotz der Risiken von Missernten eine freie Fläche zugelegt, weil ihre Renten nicht ausreichen.

Auf einem ehemaligen, rund 1,5 Hektar großen Schulgelände bauen Noah Link und Alex Bryan seit 2011 frischen Spinat, Tomaten und Knoblauch an, ernten saisonales Obst und halten Hennen, Enten und Honigbienen. „Das war ein riesiger Aufwand, die Fläche urbar zu machen – aber es hat sich gelohnt“, sagt Noah Link, der seiner Fläche den Namen „Food Field“ gegeben hat. Die Ernte landet in den Küchen benachbarter Restaurants und auf dem örtlichen Wochenmarkt.

Auf dem Food Field wird dabei stets ökologisch produziert – so wie bei allen Stadtfarmern in Detroit. „Es ist für uns Kleinbauern effizienter und gesünder, boden- und umweltschonend zu produzieren“, so Link.

Detroit könnte sich zu 75 Prozent selbst versorgen, besagen Studien der Universität Michigan.9 Doch so weit ist die Stadt noch lange nicht. Nicht einmal ein Prozent der konsumierten Lebensmittel stammt aus städtischer Produktion – und das, obwohl es bereits bis zu 1.000 Stadtgärten gibt. „Die Tendenz ist zwar steigend, aber bis heute haben es viele Leute schwer, das Land unbürokratisch und günstig von der Stadt zu kaufen“, sagt Link. Für viele sei der Anbau zudem auf Dauer nicht rentabel genug.

Link sieht die Politik am Zuge. Sie müsse dafür ein neues Fördersystem mit besseren Anreizen für Öko-Kleinbauern in Städten schaffen. Das ist laut Link bitter nötig: „Detroit geht es immer noch schlecht, nach wie vor ziehen die Menschen von hier weg. Das Potential dieser Stadt muss genutzt werden, damit zumindest ein Teil der Bürger hier eine Zukunft hat.“

„Hängende Gärten“ in Recife: Gemüselasagne aus Plastikflaschen

„Gemüse, Kräuter und Samen ernähren nicht nur den Körper gesund, sie stimulieren auch den Geist“, sagt Demetrius Demetrio. Er leitet in der Großstadt Recife im armen Nordosten Brasiliens die „Gemeinschaft der kleinen Propheten“ – eine Hilfsorganisation, die Straßenkinder und Jugendliche aus armen Familien betreut.

Seit einigen Jahren schon pflegen die Kinder dort ein kleines Paradies inmitten der zubetonierten, schmutzigen Stadt: In mehr als 1.000 mit fruchtbarem Boden befüllten Plastikflaschen – den „hängenden Gärten“ – gedeihen Salat, Kräuter, Tomaten und vieles mehr. „Eine absolute Neuerung für viele Kinder“, sagt Demetrio. Denn vor allem die armen Familien in den Armenvierteln ernähren sich vorrangig von ungesunden Fertigprodukten, viele Kinder kennen nicht einmal den Geschmack der meisten Kräuter und Gemüsesorten.

Seit Demetrio und die Köche des Projekts regelmäßig Auberginenlasagne mit Rucolasalat, Nachos mit Tomaten-Basilikum-Füllung und farbigen Reis mit Chili bereiten, ist das vorher argwöhnisch beäugte „Grünzeug“ aber zum absoluten Renner unter den Kindern geworden. Der fruchtbare Boden wird gekauft oder stammt von Demtrios Farm am Rande Recives. Dort können drogenabhängige Jugendliche eine Entzugskur machen - unterstützt durch Farmarbeit sowie die Pflege der Nutztiere, und frei von Medikamenten.

Das Projekt in Recife bietet auch Kurse zum Bau und der Pflege solcher Gärten in Schulen an. Wo Platz ist, legen die Kinder Beete an. Ansonsten befestigen sie Flaschen an Wänden und stellen Container und Schalen mit Erde auf. Das soll den Zugang der Menschen zu nahrhaften Lebensmitteln verbessern und zumindest teilweise die Selbstversorgung ermöglichen. Und das Urban-Gardening-Projekt „der Kleinen Propheten“ ist kein Einzelfall.

Auch an den Rändern anderer Megacities in Lateinamerika waren die Bewohner kreativ. So auch in der Favela Vidigal nahe Rio de Janeiro. Dort haben die Bewohner auf eigene Faust einen Park angelegt, wo die Bewohner in Plastikflaschen Gemüse und Blumen anbauen. So entstand auch dort eine lebendige Oase in der Stadt.

Gemüse-Boom in Andernach: Eine Stadt wird „essbar“

Deutschlands größtes Urban-Gardening-Projekt befindet sich weder in Berlin noch in München, sondern in der Stadt Andernach am Rhein. Dort ziehen sich Obst- und Gemüsebeete entlang der alten Stadtmauer, an Spielplätzen und in Gewerbegebieten. Vor den Toren Andernachs steht obendrein eine rund 12 Hektar große Permakultur, also ein landwirtschaftliches produktives Ökosystem, das dauerhaft funktionierende, nachhaltige und naturnahe Kreisläufe schafft. Das besondere dabei: Die grünen Flächen gehören allen etwa 30.000 Stadtbewohnern. Statt „Betreten verboten“ heißt es „Pflücken erlaubt“.

„Andernach hatte wie viele Städte mit zunehmenden Problemen zu kämpfen: Leerstand, Arbeitslosigkeit und immensen Kosten für die Instandhaltung öffentlicher Grünflächen. Wir mussten etwas ändern“, erinnert sich Heike Boomgaarden. Gemeinsam mit Dr. Lutz Kosack hatte sie die Idee für das Projekt „Essbare Stadt“.

Angeleitet von Gärtnermeistern der Perspektive GmbH legten Langzeitarbeitslose und Freiwillige 2010 die ersten Beete an, bis heute haben sie 101 verschiedene Tomaten-, 60 Bohnen- und 20 Zwiebelsorten sowie Beeren, Küchenkräuter und Blumen angepflanzt. „Jedes Jahr steht eine Nutzpflanze besonders im Fokus“, sagt Boomgaarden.

Die Pflege der Beete leisten ehrenamtliche Bürger, darunter zahlreiche Langzeitarbeitslose, und professionelle Stadtgärtner – auf ökologisch nachhaltiger Basis. In der Stadt stehen Komposthaufen zur Herstellung von Humus, zum Einsatz kommen biologische Pflanzenschutzmittel und Jauchen als Dünger.

Für die Selbstversorgung reicht Andernachs Gemüsereichtum aber bei weitem nicht. „Das ist auch gar nicht das Ziel. Bei uns hat sich die innere Haltung zur Stadt geändert. Das Grün regt zum Verweilen an, man trifft sich, es ist einfach ein anderes Lebensgefühl als vorher“, so Boomgarden.

Nach den Plänen von Boomgarden und Kosack soll Andernach aber noch grüner werden. „Die essbare Stadt ist wie ein gedankliches Haus. Wir haben gerade erst den Keller und das Erdgeschoss gebaut. Jetzt kommt der erste Stock dran.“

Boomgarden will künftig so viele Reststoffe der Stadt wie möglich für die landwirtschaftliche Produktion weiterverwenden. Zugleich will sie Restaurants mit einbeziehen. Sie sollen beim Anbau mithelfen, aus dem Gemüse regionale Gerichte zaubern. „Wir wollen unsere CO2-Bilanz verbessern und den Boden noch näher an unsere Bürger herantragen“, so Boomgaarden. Und die 12 Hektar große Permakultur – die will sie zu Deutschlands größten Lehrgarten umfunktionieren.