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Streitgespräch „Landgrabbing“: Chance für Entwicklungsländer oder Landraub an lokalen Bauern?

Landnahme, Landgrabbing oder Investitionen ausländischer Großunternehmen: Großflächige Käufe und Pachten von Agrarflächen durch private oder staatliche Investoren sind stark umstritten. Während Gegner solcher Investitionen den Käufern und Pächtern vorwerfen, sie würden ungeklärte Landrechte in Entwicklungs- und Schwellenländern zu ihrem Vorteil nutzen und die lokale Bevölkerung benachteiligen, sprechen Befürworter von großen Vorteilen: Sie sagen, bei geklärten Eigentumsverhältnissen und gesicherten Zugangs- und Nutzungsrechten könnten die Bäuerinnen und Bauern stark von solchen Landkäufen profitieren.

In einem Streitgespräch stellen Marita Wiggerthale, Agrarexpertin bei Oxfam, und Harald von Witzke, Professor für internationalen Agrarhandel und Entwicklung der Humbolt Universität Berlin, ihre Argumente für und gegen diese Art der Investitionen vor.

Landgrabbing, Landnahme, internationale Landverkäufe – vielfältige Begriffe umschreiben ein Phänomen. Wie verstehen Sie die Aneignung von Land in erster Linie durch internationale Unternehmen und Investoren, wie sie mittlerweile vermehrt in Entwicklungs- und Schwellenländern stattfindet?

Marita Wiggerthale: Investoren sichern sich zunehmend wichtige Land- und Wasserrechte, indem sie Tausende Hektar Land pachten oder kaufen. Wir sprechen von Landgrabbing, wenn bei Landgeschäften mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist: 1) Menschenrechte, insbesondere von Frauen, werden verletzt, 2) das Prinzip der freien, vorherigen und informierten Zustimmung (FPIC) wird nicht befolgt, 3) eine sorgfältige Folgenabschätzung bzw. die sozialen, wirtschaftlichen und Umweltauswirkungen insbesondere auf Frauen werden nicht berücksichtigt, 4) die Verträge werden nicht transparent gemacht und enthalten keine klaren Verpflichtungen hinsichtlich Arbeitsplätzen und gerechter Gewinnteilung, 5) es gibt keine wirksame, demokratische Planung, unabhängige Überprüfung und umfassende Beteiligung der Betroffenen.

Harald von Witzke: In den Wirtschaftswissenschaften wird das Thema grundsätzlich als ausländische Direktinvestition in landwirtschaftliche Nutzflächen bezeichnet; auch Forst- und Minenkonzessionen fallen darunter. So würde ich es als Wissenschaftler auch bezeichnen – es sei denn, ich will provozieren. Dann nenne ich es natürlich Landgrabbing.


Befürworter loben die Möglichkeiten, die sich aufgrund neuer Investitionen in einem lange Zeit vernachlässigten Sektor ergeben. Teilen Sie die Einschätzung, dass der Agrarsektor in Entwicklungsländern durch internationale Landinvestitionen positive Impulse erlebt? Bieten internationale Landinvestitionen Ihrer Meinung nach Chancen für die lokale Bevölkerung und welche?

Harald von Witzke: Ausländische wie auch nationale Investitionen bieten ein außerordentliches Potenzial, Entwicklungsländern etwas Gutes zu tun. Auf deren Landwirtschaft und die Volkswirtschaften insgesamt wirkt sich begrenzend aus, dass die Bauern dort keinen Zugang zu Kapital haben und ihnen gut ausgebildete Arbeitskräfte sowie das Wissen fehlt, Marktzugang in andere Länder herzustellen. Bei all dem können ausländische Investoren helfen.

Das große Problem ist, dass in vielen potenziellen Empfängerländern die Eigentums- und Nutzungsrechte für Ackerland, Wald und Wasser nicht gesichert sind. Die Investoren machen Verträge mit den Regierungen und können die auf dem erworbenen Land ansässigen Bauern vertreiben. Damit die Investitionen segensreich sind, müssen also unbedingt die Landrechte gesichert sein. In vielen Ländern Afrikas hat das noch nicht geklappt. Im Baltikum, und auch in einigen lateinamerikanischen Staaten wie Brasilien oder Argentinien gibt es aber positive Entwicklungen.

Marita Wiggerthale: Internationale Investitionen können die Lebenssituation von Menschen verbessern, Arbeitsplätze schaffen und die Infrastruktur verbessern, wenn sie verantwortungsvoll in einem wirksamen Regulierungsrahmen erfolgen. Dies ist bei Landinvestitionen jedoch ganz anders. Die Ernährungssicherheit Millionen armer Menschen hängt von ihrem Land ab. Zu viele Landinvestitionen führen zur Enteignung, Verletzung von Menschenrechten und der Zerstörung von Lebensgrundlagen. Ohne nationale und internationale Maßnahmen, die die Rechte von Menschen in Armut schützen, werden viele arme Familien schlechter dastehen als vorher. Allzu oft werden sie von ihrem Land vertrieben, ohne die Möglichkeit zu haben, ihre Rechte auf dem Rechtsweg einfordern zu können.

 

Die „Land Matrix“, die erste systematische Erfassung von internationalen Landtransaktionen über 200 Hektar, verzeichnet zurzeit mehr als 1.000 solcher Transaktionen. Die Staaten des Mittleren Ostens kaufen zudem viel Land in Afrika – nicht nur, weil sie selber zu wenig Land haben, sondern auch zu wenig Wasser. Wie schätzen Sie die weitere Dynamik solcher Landnahmen angesichts globaler wirtschaftlicher und ökologischer Entwicklungen ein?

Marita Wiggerthale: Hinter dem weltweiten Kampf um Land verbirgt sich ein Kampf um eine Ressource, die zunehmend wertvoller als Gold angesehen wird: Wasser. Landinvestitionen zielen insbesondere auf Gebiete mit fruchtbaren Böden und guter Wasserverfügbarkeit. In Brasilien suchte ein Asset Manager nur Land mit einem sicheren Jahresniederschlag von 1.200 bis 1.400 Millimetern. Länder wie Tansania und Mosambik bieten in sogenannten Wachstumskorridoren großflächig Land für Investoren an, das in wasserreichen Gebieten liegt. So entfällt auf das tansanische Rufiji Basin ein Drittel des Niederschlags des Landes und ein Viertel der in Flüssen geführten Wassermenge. Der Zugang zu Wasser für dortige Gemeinden ist ernsthaft bedroht.

Harald von Witzke: Je teurer und knapper Nahrungsmittel werden, umso schärfer wird der Kampf um die knappen landwirtschaftlichen Nutzflächen. Und Wasserverfügbarkeit ist ein wichtiger Faktor für Produktivität. Große Nettoimporteure wie Saudi Arabien oder China investieren inzwischen stark in Afrika, weil sie nicht genug Land für die eigene Versorgung und nicht mehr ausreichend Vertrauen in die internationalen Agrarmärkte haben. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Preise in Krisenzeiten nicht stabil bleiben. Um vor solchen Krisen abgesichert zu sein, versuchen sich viele Länder Land zu sichern.

Wir dürfen uns nichts vormachen: Freihandel, ausländische Direktinvestitionen in Ackerland sind die friedlichen Mittel, Ressourcen zu gewinnen, die die Ernährung sicherstellen. Die andere Möglichkeit, um an fruchtbares, wasserreiches Land zu kommen und die Versorgung des eigenen Staates sicherzustellen, sind kriegerische Mittel.

 

Welche Probleme erwachsen bereits jetzt aus diesen Landnahmen oder sind bei steigender Zahl von Landnahmen zu erwarten? Die Konkurrenz um die Nutzung fruchtbarer Böden für Nahrungs- und Futtermittel oder Sprit steigt. Wie schätzen Sie die Chancen der weltweit dominierenden landwirtschaftlichen Klein- und Familienbetriebe ein, sich in dieser Konkurrenz behaupten zu können?

Harald von Witzke: Wenn die Eigentumsrechte gesichert sind, stehen die lokalen Kleinbauern besser da als ohne ausländische Investoren. Dann können sie nicht ohne Kompensation vom Land vertrieben werden, sondern haben im Gegenteil Zugang zu Wissen, ausländischen Märkten usw.

Was die Chancen kleinerer Betriebe und Familienbetriebe betrifft, muss man realistisch sein: Einige Kleinbauern werden zukünftig auch größere Märkte bedienen, andere werden beginnen müssen, für große Unternehmen zu arbeiten. Man muss sich klarmachen, dass die heutigen Kleinbauern langfristig keine Perspektive haben, zu bestehen. Wenn man Kleinbauern bei der Förderung in den Vordergrund stellt, riskiert man, sie in eine Armutsfalle tappen zu lassen. Es muss nicht unbedingt Vorteile haben, weiter als Kleinbauer zu existieren. Die Frage ist allerdings, wie und in welchem Ausmaß die Umstellung abläuft.

Marita Wiggerthale: Immer mehr Menschen werden von ihrem Land vertrieben und stehen vor dem Nichts. Unbeschreiblich sind die Not, der Hunger und das Elend. Im April wurde bekannt, dass im letzten Jahrzehnt etwa 3,4 Millionen Menschen durch Weltbankprojekte ihr Land oder einen Teil ihrer Lebensgrundlage verloren haben. Solche Fälle sind auch von der Weltbanktochter IFC bekannt, die mittlerweile 62 Prozent ihres Investitionsportfolios über Partner wie Banken und Private Equity Fonds abwickelt. Ohne einen wirksamen Schutz der Landrechte von Gemeinden, kleinbäuerlichen Familien und Pastoralisten (nicht sesshafte Viehhalter) sowie ohne den Zugang zu Rechtswegen können sie sich nur schwer in diesem Kampf um Land und Wasser behaupten. Ihre einzige Chance ist, sich zu organisieren und sich gemeinsam gegen das Land- und Wassergrabbing zu wehren. In Afrika leben rund 500 Millionen Menschen von der Landwirtschaft. Wer die industrielle Landwirtschaft und damit den Strukturwandel fördert, drängt Kleinbauern und Kleinbäuerinnen ins Abseits und nimmt ihnen angesichts fehlender Alternativen, außerhalb der Landwirtschaft eine Beschäftigung zu finden, jegliche Zukunftsperspektive. Armut und Hunger werden in Afrika weiter zunehmen und immer mehr Menschen werden in die Metropolen oder nach Europa flüchten.


Um eventuelle Chancen internationaler Investitionen in Land zu nutzen und um eventuelle Risiken zu beherrschen: Welche Handlungsempfehlungen können Sie aus Ihrer Position ableiten?

Marita Wiggerthale: Im Moment sind die Risiken größer als die Chancen. Der Kauf bzw. die Pacht von Land, das Gemeinden, kleinbäuerliche Familien und Pastoralisten nutzen, sollte vermieden werden. Faire Anbauverträge mit Kleinbauern und Kleinbäuerinnesind zu bevorzugen. Die Kräfteverhältnisse müssen sich zugunsten der von Landinvestitionen Betroffenen verschieben. Die bestehenden Landrechte müssen geschützt und die freie, vorherige und informierte Zustimmung von lokalen Rechtsinhabern und Gemeinden eingeholt werden. Die freiwilligen Leitlinien zu Land, die im Jahr 2012 vom UN-Welternährungsausschuss verabschiedet wurden, sollten der Maßstab für alle Landinvestitionen
sein. Regierungen sollten eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von Unternehmen gesetzlich verankern. Informationen zu großflächigen Landinvestitionen sollten öffentlich zugänglich gemacht werden. Um sich und ihre Familien zu ernähren, müssen nicht nur die Landrechte der lokalen Bauern gesichert, sondern auch für viele Menschen der Zugang zu Land verbessert werden. Erforderlich sind neben ihrer Beteiligung an politischen Prozessen und an der Entwicklung von Programmen auch unabhängige staatliche Beratungssysteme, die bei ihren Bedürfnissen ansetzen und einen Fokus auf die zukunftsweisende Agrarökologie legen.

Harald von Witzke: Hinter dem Phänomen der verstärkten Investitionen in Land steckt die Einsicht, dass Boden immer knapper wird. Zwischen 2000 und 2050 müssen wir die landwirtschaftliche Produktion geschätzt um 120 Prozent steigern. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass nur zehn Prozent der künftigen Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft durch die Ausdehnung der Ackerflächen möglich sein wird. Der Großteil muss durch Produktivitätssteigerung auf dem Land passieren, das jetzt schon bewirtschaftet wird.

Hunger ist am meisten verbreitet auf dem Land, die meisten Armen sind Kleinbauern und Landlose in den Entwicklungsländern. Ihnen kann man kurz- und mittelfristig helfen, indem man ihnen Zugang verschafft zu drei elementaren Technologien: Erstens zu Mineraldünger, zweitens zu Pflanzenschutz – denn knapp die Hälfte der Ernten geht in den Entwicklungsländern durch Schädlinge und Krankheiten verloren – und drittens durch den Zugang zu ertragreicheren Sorten.

 

Welche Maßnahmen sind Ihrer Einschätzung nach die dringendsten, um die Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung zu sichern, größere Mengen Agrarrohstoffe herzustellen und zugleich Landdegradation zu verhindern bzw. rückgängig zu machen?

Harald von Witzke: Landwirtschaftliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Bildung generell spielen eine wichtige Rolle, insbesondere für Frauen und Mädchen. Denn dies hat einen großen Einfluss auf das Bevölkerungswachstum, dem die Nahrungsmittelproduktion in vielen Ländern kaum nachkommt.

Zudem ist das richtige Setzen von Anreizen für die lokalen Bauern und Bäuerinnen wichtig, damit Bodendegradierung verhindert wird. Wenn die Eigentumsrechte gesichert sind, denken die Bauern in Generationen, also langfristiger und nachhaltiger.

Produktivitätssteigerung ist ein weiterer wichtiger Punkt. Die Investitionen des Privatsektors sind hier essentiell. In der Vergangenheit wurde der Privatsektor zu sehr entmutigt oder gar verteufelt und konzentrierte sich darum auf seine Kernmärkte. Jetzt wo klar ist, dass Boden knapper wird, haben aber auch die internationalen Entwicklungsorganisationen eingesehen, dass sie ohne den Privatsektor nicht viel erreichen können bei der Ernährungssicherung. Und auch die technologische Fortentwicklung und die synthetische Biologie – zum Beispiel die Züchtung salz- und trockenresistenter Pflanzen – werden in diesem Kontext immer wichtiger.

Marita Wiggerthale: Kleinbauern und Kleinbäuerinnen produzieren bereits heute 70 Prozent der Nahrungsmittel weltweit und sind in der Lage, die Welt ökologisch nachhaltig zu ernähren. Mit Land- und Agrarreformen sollte ihr Zugang zu Ackerflächen und Wasser verbessert werden. Über Farmer-Field Schools, Farmer-to-Farmer-Austausche etc. sollten die Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit durch organische Substanz, die Nutzung biologischer Prozesse und diversifizierte, biologisch vielfältige Anbausysteme gefördert werden, um die Produktion und die Einkommen von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen ökologisch nachhaltig zu steigern und sie widerstandsfähiger in Zeiten des Klimawandels zu machen. Eine menschenrechtsbasierte und umweltgerechte Handels- und Investitionspolitik ist dafür unabdingbar.

Entwicklungs-NGOs halten die Rolle, die Regierungen Unternehmen bei der Ernährungssicherung zuschreiben, für sehr bedenklich. Fehlanreize der Politik, die Biosprit- und Fleischproduktion zu fördern, erhöhen die Konkurrenz um die Landnutzung zwischen Teller, Tank und Trog. Bereits heute importiert die EU virtuell im großen Maßstab Flächen. Diesen Flächen-Fußabdruck gilt es zu verringern. Eine Welt ohne Hunger ist möglich, aber nur mit ganz demokratischen Entscheidungsprozessen.