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Bolivien: Verfassungsrang für die „heilige Mutter Boden“

Pachamama: In Südamerika bezeichnet dies Natur, Mutter Erde und den Boden – und deren Wertschätzung. In Ecuador und Bolivien wurde das Konzept vor einigen Jahren sogar in die Verfassung aufgenommen. Die Natur hat nun ein Recht darauf, geschützt zu werden. Doch die Umsetzung gestaltet sich schwierig, denn häufig setzen Entwicklungsinteressen dem Naturschutz enge Grenzen.

Zu seiner Amtseinführung im Januar 2006 bedankte sich Boliviens indigener Präsident Evo Morales bei der Erde für seinen Sieg. 2009 dann wurde Pachamama, die Mutter Erde, zur Sicherung des Allgemeinwohls in die Verfassung des Landes aufgenommen. Damit hat in Bolivien, ebenso wie in Ecuador, die Natur einen Anspruch darauf, von den Menschen bewahrt und achtsam behandelt zu werden.

„Pachamama ist die Schöpferin des Lebens und bedeutet auch die Fruchtbarkeit des Bodens – die Natur wird hier also als ein Subjekt begriffen“, sagt die Kulturanthropologin Anne Ebert von der Freien Universität Berlin. Dabei finde sich das duale Prinzip der Schöpfung, also das Zusammenbringen von Gegensätzen, auch im Pachamama-Konzept: Sie schafft Leben, kann es aber – etwa durch Erdrutsche oder Dürren – auch zerstören.

Im Laufe der landwirtschaftlichen Anbauphase gibt es darum zahlreiche Opferriten für Pachamama. Da der Boden für die Aussaat im August aufgerissen, also verletzt werden muss, danken die Menschen Pachamama und schenken dem Boden Alkohol und das Blut von Opfertieren. Auch die besten Getreidekörner werden im Rahmen eines Rituals abseits der Landwirtschaft dem Boden zurückgeben.

Ursprünglich bedeutete Pachamama, dass die indigene Bevölkerung im Einklang mit der Natur lebt. Dies spiegelt mittlerweile einen Trend wieder: „Buen Vivir“ – das Recht auf gutes Leben und die Bewahrung der Natur – und auch einige Bräuche zu Ehren von Pachamama werden heute zunehmend nicht mehr nur auf dem Land, sondern auch von Menschen aus der Mittel- und Oberschicht in der Stadt vollzogen, erläutert Ebert. Der Beginn der Aussaat-Zeit sowie die Ernte werden gefeiert und Opfergaben in kleinen Schreinen verbrannt, die Zeit der Ernte wird mit Tanz und weiteren Opfergaben begangen.

Dabei handelt es sich nicht mehr nur um Traditionen, die von den massenhaft vom Land in die Städte abwandernden Menschen mitgenommen wurden. Vielmehr wurden viele Bräuche in den vergangenen Jahren in politische Diskurse und Forderungen eingebunden – auch von Stadtbewohnern, die nicht zur indigenen Bevölkerung gehören. Sie übernahmen Ideen aus dem ursprünglich von der indigenen Bevölkerung gepflegten Konzept des „Buen Vivir“, bei dem das gemeinschaftliche, auf Reziprozität basierende Leben im Einklang mit der Natur im Mittelpunkt steht. Damit verbunden ist heute auch die politische Forderung nach der Gleichbehandlung und Anerkennung der Rechte der indigenen Bevölkerung.

Dieses Ziel hat sich auch Boliviens Regierung gesetzt. Den 1970 begründeten und heute am 22. April in mehr als 175 Ländern gefeierten „Tag der Erde“, englisch „Earth Day”, benannte Evo Morales sogar um: Nach dem Scheitern der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 lud er 2010 zum „Internationalen Tag der Mutter Erde“ und zu einer alternativen „Weltkonferenz der Völker über den Klimawandel und die Rechte von Mutter Erde“ ein.

Das Konzept des „Buen Vivir“ hat seit 2009 denn auch Verfassungsrang. Welche konkreten Schritte hin zu positiven Veränderungen für Mensch und Natur nicht nur nötig, sondern auch gangbar sind - das wird derzeit in der Praxis erprobt. „Die Umwelt auf die nationale Agenda zu setzten war ein guter Schritt“, sagt Almut Schilling-Vacaflor, Wissenschaftlerin des GIGA (German Institute of Global and Area Studies) in Hamburg. Allerdings verstünden Regierung, Gewerkschaften und auch ärmere ländliche Schichten die Idee des „Buen Vivir“ zurzeit vor allem als Ausbau der sozioökonomischen Entwicklung, bei dem Gewinne aus boden- und naturbelastender Industrie, wie etwa Erdgasförderung, für den Staat gewonnen und dann umverteilt werden sollen. Beispielsweise ist weiterhin gesetzlich erlaubt, Ölbohrungen in Naturschutzgebieten durchzuführen.

So finanzierte Sozialprogramme haben in den vergangenen Jahren auch einiges bewegt: Schulen, Sporthallen, Krankenhäuser und die lokale Gasversorgung wurden gebaut.

Zumindest aber für den Erdgassektor wurden seit 2007 Gesetzesdekrete erlassen: Eines sieht Konsultationen der lokalen Gemeinden vor, bevor Unternehmen in einem Gebiet Projekte wie die Suche oder Förderung von Erdgas und den Bau von Gas-Pipelines umsetzen. Auch öffentliche Anhörungen mit Repräsentanten der ansässigen Bevölkerung finden statt. Schilling-Vacaflor sieht das als großen Fortschritt. „Als Grundlage für Konsultationen gibt es auch Umweltverträglichkeitsstudien und häufig mehrtägige Feldinspektionen – eine gute Innovation, bei der sich die lokale Bevölkerung mit Regierungsvertretern des Ministeriums für Erdgas und Energie vor Ort ein Bild von den zu erwartenden sozialen und ökologischen Auswirkungen machen kann.“

Doch das allein schützt die Umwelt noch nicht: Viele indigene und bäuerliche Gruppen und Gewerkschaften wissen zu wenig über Umweltauswirkungen vom Rohstoffabbau in ihren Gebieten und glauben an Fortschritt und Arbeitsplätze. Da geraten Natur- und Bodenschutz im Vergleich zu kurzfristig greifbaren Vorteilen leicht ins Hintertreffen. Gleichzeitig häufen sich aber Nachrichten von verschmutzten Böden und Gewässern durch ungefilterte Abwässer aus den Minen – womit die Mutter Erde wieder in den Fokus rückt: Die Sorge der lokalen Bevölkerung über die Auswirkungen expandierender Projekte, z. B. auf ihre Wasserreserven, steigt, so Schilling-Vacaflor.

Ihr zufolge wären mehr Kapazitäten, Transparenz, mehr Wissen über Naturschutz und Umweltauswirkungen durch den Rohstoffabbau notwendig. Gleichzeitig sollten staatliche Einheiten wie das Umweltministerium stärker und unabhängiger werden. Dennoch ist die Sozialanthropologin optimistisch: „Positiv hervorzuheben ist, dass sich die bolivianische Regierung bei sozialen Konflikten tendenziell verhandlungsund kompromissbereit zeigt anstatt repressiv vorzugehen.“

Die Umsetzung des „Buen Vivir“ befindet sich also in einem komplexen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess. So bleibt offen, ob es durch den Verfassungsrang der Pachamama gelingt, kurz- und langfristige Entwicklungsinteressen in Einklang zu bringen.